Duelle an der Schönburg – Die rheinland-pfälzische Jugendmeisterschaft 2023 aus Trainersicht
An der Loreley, im malerisch gelegenen Ort Oberwesel, fand vom 1.-5. April die rheinland-pfälzische Jugendmeisterschaft 2023 statt. Erstmals spielten alle Altersklassen von U10 bis U18 an einem Ort, so dass 108 Spielerinnen und Spieler in der geräumigen Rheintal-Jugendherberge, neben der eindrucksvollen Schönburg aus dem 12. Jahrhundert, an die Bretter gingen. Wie immer bestand das Ziel nicht allein in Meisterehren, sondern auch in der Qualifikation zur Deutschen Jugendmeisterschaft in Willingen. Ich war während der fünf Tage vor Ort und betreute unsere vier Starter: Helena Frydel (U10w), Fynn Didas (U12), Marcel Frydel (U14) und Milan Schneble (U16). Im Mittelpunkt des folgenden Berichts steht Helenas Titelgewinn, der nicht nur sportlich die anderen Altersklassen überstrahlt, sondern mich auch von seiner Dramaturgie her am meisten mitgenommen hat.
Doch sollen natürlich auch die Ergebnisse der drei Jungs gewürdigt werden. Fynn wurde mit 3 Punkten aus 7 Runden und Platz 19 deutlich unter Wert geschlagen. In Oberwesel wirkte sich ungünstig aus, dass Fynn seine Züge sehr sorgfältig durchdenkt, was ihm schon viele gute Ergebnisse eingetragen hat. Leider wurde in den beiden jüngsten Altersklasse mit einer Bedenkzeit von 55 Minuten plus 5 Sekunden Inkrement gespielt – für Fynn schlicht zu wenig, so dass ihm mehrfach gute Stellungen aus den Händen glitten.
Marcel startete mit einem Punkt aus den ersten beiden Partien verhalten, legte dann aber einen Zwischenspurt mit 2,5 Punkten aus den folgenden drei Runden hin, der ihn nahe an die Podestplätze brachte. In den beiden letzten Runden hätte er einen Punkt für Platz 3 benötigt, doch gegen die beiden stärksten Spieler des Turniers, Nikita Weber und Daris Mohammadzadeh von Vorwärts Orient Mainz kassierte er stattdessen zwei Niederlagen, von denen zumindest die zweite gegen Daris etwas unglücklich war. Am Ende landete er mit 3,5 Zählern auf Platz 6.
Das sportlich wertvollste Ergebnis erzielte Milan mit 4 Punkten aus 7 Runden, in denen er die ersten Fünf der Setzliste als Gegner hatte. Vielleicht war sogar noch etwas mehr drin, zumindest gemessen an der unglücklichen Niederlage in der 6. Runde gegen den späteren Vizemeister Matteo Metzdorf (SG Trier). In der Schlussrunde besiegte Milan souverän den Vorjahresmeister Fabian Mader (SV Lahnstein) und zeigte spätestens mit dieser Partie, dass er an guten Tagen eine Spielstärke von über 2000 DWZ aufs Brett bringen kann.
Helenas Hattrick
Die höchste DWZ, die meiste Turniererfahrung – alles sprach vor diesem Turnier für Helena. Alles, bis vielleicht auf die Tatsache, dass sie ihre letzte Partie gegen die mutmaßlich härteste Konkurrentin Emma Tiuca (SG Trier) in der luxemburgischen U10-Meisterschaft im Februar verloren hatte. Daher war ich gerade bei diesem Turnier etwas nervös.
Und der erste Turniertag bestätigte mein mulmiges Gefühl: Nach einem Auftaktsieg gegen Zlata Kryvoruchko (SC Westheim) misslang die zweite Partie gegen Meara Classen (SG Trier) vollkommen. In ausgeglichener Stellung ließ sich Helena auf einen taktischen Trick ein, den ihre Gegnerin durch einen Zwischentausch widerlegen konnte. Letztlich kam Helena aus den Verwicklungen mit einem Minusbauer heraus, leistete sich aber umgehend einen weiteren Fehler der eine Figur und damit die Partie kostete. Ein herber Rückschlag zumal bei nur 5 Runden – einen weiteren durfte sich Helena auf keinen Fall mehr leisten! Am zweiten Tag gewann sie souverän gegen Silja Liu (SF Bitburg), bevor es in der 4. Runde zur Schlüsselpartie gegen Emma Tiuca kam. Emma hatte zuvor alle ihre Partien gewonnen; für Helena zählte folglich nur ein Sieg. Wie hoch für sie der Druck war, zeigt das Partieformular, das – ganz untypisch für Helena – voller Schreibfehler und vergessener Züge ist. Wir hatten vor der Partie eine bestimmte Eröffnungsvariante vorbereitet, doch Helena vergaß am Brett in der Aufregung die Vorbereitung und spielte reflexartig eine andere Variante! In diesem Moment musste ich den Turnierraum verlassen, ich konnte es einfach nicht mehr mitansehen. Schon eine Partie unnötig verloren, nun die Eröffnungsvorbereitung verpatzt – ich kenne viele Spieler (und nicht nur Kinder!), die in dieser Situation chancenlos untergegangen wären. Doch es kam ganz anders, und diese Partie unter den geschilderten besonderen Umständen ist vielleicht Helenas bislang beste Leistung überhaupt. Es gelang ihr, sich in einer Stellung, die sie zuvor noch nie auf dem Brett gehabt hatte, zu orientieren. Im 24. Zug eroberte sie einen gegnerischen Isolani und besaß fortan Materialvorteil. Dennoch war das entstandene Turmendspiel alles andere als leicht, zumal Emma nach wie vor eine starke Verteidigung demonstrierte. Doch am Ende erwies sich der Mehrbauer, mittlerweile ein Freibauer auf der b-Linie, als zu stark.
Das Turnier war nach 4 Runden wieder völlig offen. Emma, Meara und Helena hatten 3 Punkte und eine identische Sonneborn-Berger-Wertung. Sollten alle drei ihre letzte Partie gewinnen, gäbe es – was eigentlich? Auf meine Frage erteilte Turnierleiter Paul Perske den Bescheid: Einen Stichkampf aller drei Spielerinnen, 20 Minuten-Partien, doppelrundig. Ein eigenes Turnier! Dass dieses Szenario Wirklichkeit werden würde, deutete sich am Schlusstag schon früh an. Meara und Emma gewannen ihre Partien schnell, Helena brauchte für ihren Sieg gegen Nathalie Stein (SF Nickenich) nur unwesentlich länger. Schnellschach! Schon bei der kurzen Besprechung, die Schiedsrichterin Mara Schlich mit den Spielerinnen und jeweils einem Betreuer durchführte, spürte man die Nervosität der Kinder. Die Auslosung ergab für die erste Paarung den Vergleich der beiden Trierer Vereinskameradinnen, was mir die Chance gab, mit Helena noch einmal die Vorbereitung durchzugehen, die ich in weiser Voraussicht noch am frühen Morgen ausgearbeitet hatte. Nachdem Emma ihre Auftaktpartie gegen Meara gewonnen hatte, lautete die Paarung der zweiten Stichkampfrunde Emma-Helena. Während die beiden unter den Augen von Mara Schlich ihre Partie austrugen, zu der richtigerweise keine Zuschauer zugelassen wurden, tigerte ich im Gang vor dem Turnierraum auf und ab. Vermutlich kamen mir 40 Minuten noch nie so lange vor. Als die Tür sich öffnete, schaute ich in zwei ziemlich abgekämpfte Gesichter – Remis! Immer noch alles offen, nicht einmal eine Vorentscheidung war gefallen. In der dritten Runde besiegte Helena Meara und zog mit Emma gleich.
Mittagspause. Natürlich schaute ich mehr auf den Laptop als auf den Teller. Helenas Variante aus der Turnierpartie war zwar erfolgreich gewesen, aber exakt war sie bei Weitem nicht. Irgendwann in dieser Zeit kam, zuerst durch Emmas Vater aufgebracht, die Frage auf, wieso man eigentlich die Kinder diesem Stress aussetzte. Ich hatte mir die Frage zuvor überhaupt nicht gestellt, und vermutlich hatte auch keiner der Schiedsrichter darüber nachgedacht. Die Spielordnung der Schachjugend Rheinland-Pfalz legt unter §6 die Bestimmungen für Punktgleichheit dar: Erst die Sonneborn-Berger-Wertung, danach die Siegwertung, danach der direkte Vergleich. Alles war in diesem Fall identisch. Danach ein Stichkampf, bestehend aus zwei Schnellschachpartien. Danach ein Blitzwettkampf über 5 Minuten. Nach dieser Spielordnung war der Fall glasklar, dennoch konnte ich mich der Logik der Frage von Herrn Tiuca nicht entziehen: Es gab zwei Startplätze für die deutsche Meisterschaft U10w, die in jedem Fall Emma und Helena einnehmen würden, da Meara ohnehin nicht an dieser Altersklasse, sondern an der U8w teilnehmen würde. Musste man nun unbedingt eine der beiden vom ersten Platz stoßen – durch die Lotterie einer Schnellpartie oder sogar durch Blitzpartien? Und dennoch ist eine Spielordnung ja erst einmal bindend, und so konnte ich auch die Stimmen verstehen, die auf eine Fortsetzung des Stichkampfs pochten. Am Ende entschied sich Paul Perske für die „kindgerechtere“ Lösung: Eine Teilung des 1. Platzes. Emma, Meara und Helena sind Rheinland-Pfalz-Meisterinnen U10w 2023, alle drei sind 2024 für die Rheinland-Pfalz-Meisterschaft vorqualifiziert. An der deutschen Meisterschaft nehmen alle drei teil, wobei Meara in der U8w starten wird. Ich bin froh über diese Entscheidung, die nicht nach den Buchstaben der Spielordnung, aber im Interesse der Kinder die richtige war. Noch vor der Siegerehrung sah ich alle drei Mädchen in einer Spielecke der Jugendherberge miteinander spielen. Manchmal vergessen wir Betreuer, Trainer und Schiedsrichter, dass die Teilnehmer an den jüngeren Altersklassen am Schachbrett natürlich Gegner sind, aber wenn sie nicht am Brett sitzen sind es – Kinder. Bei der Siegerehrung konnten alle drei glücklich ihre Pokale und Geschenke in Empfang nehmen.
Helena gelingt der dritte Rheinland-Pfalz-Titel in drei Jahren und damit ein „Hattrick“. Aus der Sicht der Schachfreunde Birkenfeld ist es nach den beiden Meisterschaften von Katharina Bohrer (2016 in der U12w, 2017 in der U14w) und dem Titel von Milan Schneble (2020 in der U14) die vierte Meisterschaft für ein Nachwuchstalent unseres Vereins. Wir gratulieren Helena herzlich und wünschen ihr alles Gute für die deutsche Meisterschaft Ende Mai.
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